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An was denkt man, wenn man stirbt?
Dichter
Nebel schlängelte sich einmal mehr durch die kühlen Gassen Londons.
Die Sonne war längst untergegangen und nur wenige Gaslampen
beleuchteten die viel zu dunklen Hauptstraßen. Zu dieser
späten Stunde war außer einer Handvoll Betrunkener kaum jemand
unterwegs. Trotz der Nebelschwaden, lag Schnee. Nicht hoch, aber hoch
genug, um sich bei Möglichkeit Drinnen aufzuhalten. Völlig
untypisch für London, die Winternächte waren normalerweise eher milder. Whitechapel mit seinen verwinkelten Gassen wirkte in dieser Nacht
gespenstisch. Noch gespenstischer als sonst.
Unter
einer Laterne, die gemächlich flackerte lag ein junger Mensch, der
in unregelmäßigen Abständen atmete. Winzige, fast unsichtbare
Dampfwölkchen stiegen auf. Das Kind lag auf dem Rücken, vor
allem aber lag es im Sterben. Das Herz schlug bereits sehr schwach
und der Körper hatte sich längst darauf eingestellt, nur noch die
notwendigsten Funktionen zu erfüllen. Viel zu viel Blut hatte den
Schnee bereits rot getränkt. Tränen waren schon auf den kalten
Wangen gefroren und es war keine Kraft übrig, um nach Hilfe zu
rufen, aber zu viel Kraft, um einfach zu sterben. Die Gedanken des
Kindes kreisten um Erinnerungen. Was war wohl das letzte, woran ein
Mensch dachte, der bereits im Sterben lag? Das Kind wusste es nicht.
Das kurze Leben war viel zu schnell an seinem geistigen Auge
vorbei geflogen, viel zu wenig Jahre, die man hätte in Zeitlupe
abspielen können. Was nach dem Rückblick geblieben war, war die
Angst vor dem was noch kommen würde. Schmerzen? Schwärze? Noch mehr
Kälte? Immer wieder drang ein bisschen mehr Blut aus der Wunde und
hinterließ einen warmen Faden auf der kalten, zitternden Haut.
Eisige Luft brannte in den kleinen Lungen und das Kind schloss
einfach die Augen und hoffte auf die Erlösung.
Ein
Geräusch zerschnitt die eisige Nacht und Schnee wurde
aufgewirbelt.
Aus
einiger Entfernung rollte eine Droschke heran, das Pferd schnaubte
laut und gehetzt. Das Kind hob den Kopf, ohne die Augen zu öffnen
und keuchte verzweifelt. Ein letzter Hilfeschrei in diesem gottlosen
Viertel. Es war gewiss, dass in dieser Dunkelheit und dem dichten
Londoner Nebel keiner das kleine Bündel unter der Laterne entdecken
würde, und so fuhr die Droschke gemächlich vorbei. Gedämpfte Hufe
waren zu hören und das Schnauben wurde wieder leiser.
Für
das Kind starb nun auch der letzte Funken Hoffnung und das Atmen
wurde wieder schwächer, bis das Bewusstsein schließlich schwand.
Schmerz und Verzweiflung wichen einem tiefen Schwarz. Seltsam, wie
sich der Körper bei einem Funken Hoffnung noch einmal aufrafft, nur
um danach noch viel tiefer zu fallen. Und was war nun der letzte
Gedanke?
Der letzte Gedanke des Kindes galt seinen Eltern, die es nie
kennengelernt hatte. Ein Wunsch, der wahrscheinlich unerfüllt bleiben sollte.
„Vergesst mich nicht."
„Vergesst mich nicht."
Die
Totenstille kehrte zurück in die Straße, die Lampe flackerte weiter lautlos langsam vor sich hin und sogar ein paar dicke Flocken bahnten sich
wieder den Weg auf den verschneiten Asphalt. Als würde der
Schnee einfach alles unter sich begraben wollen. Er hatte die Macht dazu. Schon bald war die Spur der
Droschke wieder verborgen und auch das Kind wurde bedeckt von einer kalten weißen Decke.
Wäre
man etwas länger in dieser Szene verlieben hätte man beobachten
können, wie die Droschke nach wenigen hundert Metern wendete und das
Pferd wild protestierte. Man hätte gesehen, wie die Droschke
abermals an der Lampe vorbeifuhr – diesmal jedoch hielt.
Schon
längst war ihr Bewusstsein geschwunden. Der kalte Schnee hatte die
letzte Luft aus ihren Lungen gepresst und begrub sie nun unter einer
weißen Decke. Sie konnte nicht ahnen, dass Rettung längst unterwegs
war, dass ihre einzige Hoffnung in diesem Moment vor ihr stand.
Zwei Männer stürzten eilig heraus, derart
aufgebracht, dass einer von ihnen sich nicht einmal um den Hut
kümmerte, der ihm vom Kopf gefallen und im Schnee gelandet war.
„Danken
Sie Gott! Wir haben es.“, sagte einer und fuhr sich über die
Stirn. „Wie ist das möglich?“
„Sie
sehen doch, dass es möglich ist! Watson, helfen Sie mir! Ich spüre
keinen Atem!“, rief der andere Mann und behutsam und schnell
zugleich packten sie das Kind unter den Armen und trugen es in die
wartende Droschke, die sodann mit großer Eile davonfuhr.
Zurück blieb
nur ein Hut, halb bedeckt mit Pulverschnee, neben einer großen Lache
Blut.
Von
alledem bekam der Mann im grünen Ohrensessel nichts mit. Im Kamin
prasselte ein Feuer vor sich hin und die dünnen Fensterscheiben
waren bereits beschlagen. Nicht viele Londoner konnten sich den Luxus
leisten, nicht frieren zu müssen, aber dieser Mann konnte es sehr
wohl. Vielen war ein Rätsel, warum er überhaupt regelmäßig in
diesem Club verkehrte, hatte er in seinem Zuhause doch viel mehr Platz und Raum
für sich. Mit geschlossenen Augen saß er in seinem
Lieblingssessel,völlig regungslos. Gedanklich schien er woanders zu
sein und erblickte langsam auf, als ein Angestellter an ihn heran trat
und ihm wortlos ein Telegramm reichte. Der Mann im Sessel nickte ihm
zu und er entfernte sich wieder.
„Sie
haben dich.“ Mycroft Holmes grinste, nachdem er die wenigen Worte gelesen hatte und war das Papier ins Kaminfeuer.
„Jetzt
liegt es an dir, ob du überlebst“, sagte er in Gedanken zu sich
selbst. Er grinste und schwang sich aus
dem Sessel. Es dämmerte bereits und er hatte die ganze Nacht auf
diese Nachricht gewartet. Wie immer war auf seinen Bruder Verlass
gewesen. Man reichte ihm Mantel und Hut und zufrieden verließ er an
diesem Morgen den Diogenes Club.
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Lust auf mehr? Einen Fall gibt es schon, veröffentlicht im Rahmen eines Schreibwettbewerbs