Mittwoch, 23. August 2017

London's Lost #1

=[ London's Lost ]= von Arnika Leuker


Hier habt ihr nun einen Schnipsel! Bitte gebt mir Feedback, ob ihr gerne weiterlesen wollt ♥



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An was denkt man, wenn man stirbt?

Dichter Nebel schlängelte sich einmal mehr durch die kühlen Gassen Londons. Die Sonne war längst untergegangen und nur wenige Gaslampen beleuchteten die viel zu dunklen Hauptstraßen.  Zu dieser späten Stunde war außer einer Handvoll Betrunkener kaum jemand unterwegs. Trotz der Nebelschwaden, lag Schnee. Nicht hoch, aber hoch genug, um sich bei Möglichkeit Drinnen aufzuhalten. Völlig untypisch für London, die Winternächte waren normalerweise eher milder. Whitechapel mit seinen verwinkelten Gassen wirkte in dieser Nacht gespenstisch. Noch gespenstischer als sonst.


Unter einer Laterne, die gemächlich flackerte lag ein junger Mensch, der in unregelmäßigen Abständen atmete. Winzige, fast unsichtbare Dampfwölkchen stiegen auf.  Das Kind lag auf dem Rücken, vor allem aber lag es im Sterben. Das Herz schlug bereits sehr schwach und der Körper hatte sich längst darauf eingestellt, nur noch die notwendigsten Funktionen zu erfüllen. Viel zu viel Blut hatte den Schnee bereits rot getränkt. Tränen waren schon auf den kalten Wangen gefroren und es war keine Kraft übrig, um nach Hilfe zu rufen, aber zu viel Kraft, um einfach zu sterben. Die Gedanken des Kindes kreisten um Erinnerungen. Was war wohl das letzte, woran ein Mensch dachte, der bereits im Sterben lag? Das Kind wusste es nicht. Das kurze Leben war viel zu schnell an seinem geistigen Auge vorbei geflogen, viel zu wenig Jahre, die man hätte in Zeitlupe abspielen können. Was nach dem Rückblick geblieben war, war die Angst vor dem was noch kommen würde. Schmerzen? Schwärze? Noch mehr Kälte? Immer wieder drang ein bisschen mehr Blut aus der Wunde und hinterließ einen warmen Faden auf der kalten, zitternden Haut. Eisige Luft brannte in den kleinen Lungen und das Kind schloss einfach die Augen und hoffte auf die Erlösung.

Ein Geräusch zerschnitt die eisige Nacht und Schnee wurde aufgewirbelt.

Aus einiger Entfernung rollte eine Droschke heran, das Pferd schnaubte laut und gehetzt. Das Kind hob den Kopf, ohne die Augen zu öffnen und keuchte verzweifelt. Ein letzter Hilfeschrei in diesem gottlosen Viertel. Es war gewiss, dass in dieser Dunkelheit und dem dichten Londoner Nebel keiner das kleine Bündel unter der Laterne entdecken würde, und so fuhr die Droschke gemächlich vorbei. Gedämpfte Hufe waren zu hören und das Schnauben wurde wieder leiser.

Für das Kind starb nun auch der letzte Funken Hoffnung und das Atmen wurde wieder schwächer, bis das Bewusstsein schließlich schwand. Schmerz und Verzweiflung wichen einem tiefen Schwarz. Seltsam, wie sich der Körper bei einem Funken Hoffnung noch einmal aufrafft, nur um danach noch viel tiefer zu fallen. Und was war nun der letzte Gedanke? 
Der letzte Gedanke des Kindes galt seinen Eltern, die es nie kennengelernt hatte. Ein Wunsch, der wahrscheinlich unerfüllt bleiben sollte. 
„Vergesst mich nicht."

Die Totenstille kehrte zurück in die Straße, die Lampe flackerte weiter lautlos langsam vor sich hin und sogar ein paar dicke Flocken bahnten sich wieder den Weg auf den verschneiten Asphalt.  Als würde der Schnee einfach alles unter sich begraben wollen. Er hatte die Macht dazu. Schon bald war die Spur der Droschke wieder verborgen und auch das Kind wurde bedeckt von einer kalten weißen Decke.

Wäre man etwas länger in dieser Szene verlieben hätte man beobachten können, wie die Droschke nach wenigen hundert Metern wendete und das Pferd wild protestierte. Man hätte gesehen, wie die Droschke abermals an der Lampe vorbeifuhr – diesmal jedoch hielt.

Schon längst war ihr Bewusstsein geschwunden. Der kalte Schnee hatte die letzte Luft aus ihren Lungen gepresst und begrub sie nun unter einer weißen Decke. Sie konnte nicht ahnen, dass Rettung längst unterwegs war, dass ihre einzige Hoffnung in diesem Moment vor ihr stand.
Zwei Männer stürzten eilig heraus, derart aufgebracht, dass einer von ihnen sich nicht einmal um den Hut kümmerte, der ihm vom Kopf gefallen und im Schnee gelandet war.
„Danken Sie Gott! Wir haben es.“, sagte einer und fuhr sich über die Stirn. „Wie ist das möglich?“
„Sie sehen doch, dass es möglich ist! Watson, helfen Sie mir! Ich spüre keinen Atem!“, rief der andere Mann und behutsam und schnell zugleich packten sie das Kind unter den Armen und trugen es in die wartende Droschke, die sodann mit großer Eile davonfuhr.

Zurück blieb nur ein Hut, halb bedeckt mit Pulverschnee, neben einer großen Lache Blut.

Von alledem bekam der Mann im grünen Ohrensessel nichts mit. Im Kamin prasselte ein Feuer vor sich hin und die dünnen Fensterscheiben waren bereits beschlagen. Nicht viele Londoner konnten sich den Luxus leisten, nicht frieren zu müssen, aber dieser Mann konnte es sehr wohl. Vielen war ein Rätsel, warum er überhaupt regelmäßig in diesem Club verkehrte, hatte er in seinem Zuhause doch viel mehr Platz und Raum für sich. Mit geschlossenen Augen saß er in seinem Lieblingssessel,völlig regungslos. Gedanklich schien er woanders zu sein und erblickte langsam auf, als ein Angestellter an ihn heran trat und ihm wortlos ein Telegramm reichte. Der Mann im Sessel nickte ihm zu und er entfernte sich wieder.

„Sie haben dich.“ Mycroft Holmes grinste, nachdem er die wenigen Worte gelesen hatte und war das Papier ins Kaminfeuer.
„Jetzt liegt es an dir, ob du überlebst“, sagte er in Gedanken zu sich selbst. Er grinste und schwang sich aus dem Sessel. Es dämmerte bereits und er hatte die ganze Nacht auf diese Nachricht gewartet. Wie immer war auf seinen Bruder Verlass gewesen. Man reichte ihm Mantel und Hut und zufrieden verließ er an diesem Morgen den Diogenes Club.

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Lust auf mehr? Einen Fall gibt es schon, veröffentlicht im Rahmen eines Schreibwettbewerbs