Samstag, 23. Dezember 2017

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Das Weihnachtsfest der Jenkins-Bande

Eine kurze Erklärung:
Auch dieses Jahr wurde im Baker Street Chronicle wieder zu einem Schreibwettbewerb aufgerufen. Zugrunde lag dieses Foto und ein kurzes Intro. Dr. Watson hätte dieses Foto in alten Unterlagen von Holmes gefunden und auf der Rückseite war die Jahreszahl 1982 zu lesen sowie die Namen der Herrschaften, die auf dem Bild zu sehen waren: "William Jenkins, Ernest Cooper, Joseph Hall, Freddy Langmore, "George Finnemore", Archie Jones und James Jenkins".

Für den Wettbewerb sollte man sich nun eine Geschichte dazu ausdenken und das habe ich natürlich getan.

Ich wünsch euch viel Spaß mit June und Delihla!




London, Dezember 1903
Nachdenklich drehte June das Foto in ihren Fingern. „Also ich weiß nicht, Delihla...irgendwie sieht das komisch aus.“, mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie, auf dem Bild weitere Details zu erkennen.
Das Mädchen mit den langen dunklen Locken riss ihrer Freundin das Foto aus der Hand und hielt es dicht vor die Augen.
„Das weiß ich auch... Es ist schon ein sehr seltsames Bild.“, sie drehe es um und las laut „Weihnachten 1892... obwohl es noch nicht so alt ist, sieht es ziemlich dilettantisch aufgenommen aus.“
Auf dem Foto von 1892 war ein Weihnachtsbaum auf einem Tisch zu sehen, um den sieben Männer herumsaßen. Ihre Namen waren auf die Rückseite geschrieben, mit ordentlicher Schrift. Doch das Bild war überbelichtet und Details waren kaum zu erkennen.
Delihla öffnete ihr Notizbuch und zückte den Bleistift. „Wir schreiben erst einmal auf, was wir sehen. Der Weihnachtsbaum sieht seltsam aus... und der Hintergrund auch.“ June pflichtete ihr bei: „Und schau dir den Kerl hinter dem Baum an. Überhaupt sehen alle ziemlich – halt!! Ist das … ist das James??“, rief June und griff wieder nach dem Bild, doch Lihla hielt es entschlossen fest und sah ihre impulsive Freundin ratlos an.
„Wer bitte ist James?“
„James Jenkins! Der und sein kleiner Bruder waren mal welche von uns, bei der Baker Street Bande. Aber dann begann James sich am Hafen rumzutreiben.“ June nickte. „Ja, das muss James sein. Auch wenn er irgendwie seltsam verkleidet aussieht.“
„Kennst du noch jemanden auf dem Bild?“ Lihla schrieb schnell einige Notizen in ihr Buch und kringelte den Namen „James Jenkins“ ein, während June das Foto weiter studierte. „Hm...ganz links ist sein Bruder Bill. Und der eine Mann da mit der Pfeife erinnert mich auch an jemanden...aber ich weiß nicht an wen. Der kommt mir bekannt vor. Irgendwo habe ich den schon mal gesehen.“
Lihla sah ihr über die Schulter und zog eine Augenbraue hoch. „Also ich finde der sieht aus wie einer dieser gelackten Schmieraffen, auf dem Poloplatz. Die haben mehr Fett in den Haaren als Haushalte das ganze Jahr zum Kochen brauchen.“ June lachte und schüttelte den Kopf. Sie wusste genau, wie froh ihre Freundin Delihla war, den gehobenen Kreisen zu entfliehen.

Am Weihnachtsmorgen war das Bild in June's Briefkasten gewesen und eigentlich konnte es nur von einem kommen – Sherlock Holmes. Er hatte ihr wohl mal wieder ein Rätsel aufgegeben und keine Information mehr verraten, als nötig waren. Nun war June's Kampfgeist geweckt und sie traute sich nicht eher zu dem Meisterdetektiv, bis sie das Rätsel mit Lihla zusammen gelöst hatte. Jetzt saßen sie schon seit einiger Zeit in Wiggins' Wohnung und brüteten darüber. Die Hinweise waren wirklich sehr dürftig und die zwei Mädchen waren sich nicht sicher, wo sie überhaupt ansetzen sollten. Dennoch ging eine Faszination von diesem Foto aus, es sah eben nicht so aus wie das durchschnittliche Weihnachtsfoto.

„Ich bleibe dabei: Der Mann hinter dem Baum sieht echt seltsam aus. Und dieser Baum... wer hängt denn da so ein Bild an den Baum?“
„Du Doofi...das ist wahrscheinlich ein Toter, dem zum Weihnachtsfest gedacht wurde. Es sieht aus wie eine Frau.“, flüsterte Lihla und schrieb den Gedanken sofort auf. Sie besah sich ihre Notizen:

James Jenkins ganz rechts, Bill Jenkins ganz links – Ex Baker Street Kriminalpolizei
Weihnachtsbaum und Hintergrund komisch
Bild überbelichtet – Amateurfotograf?
Tote am Baum

Den letzten Punkt besserte sie in „Foto einer Toten am Baum“ aus.
„Ich finde, wir sollten zu James Jenkins gehen und ihn fragen.“, sagte Lihla und erhob sich, um ihren Mantel anzuziehen.
„So mag ich das! Direkt mal in die Zeugenbefragung gehen!“, June zupfte ihre Mütze zurecht und die beiden brachen auf.

Der Weihnachtsmorgen war geschäftig. Menschen versuchten verzweifelt noch ein paar Geschenke aufzutreiben und kauften Kochzutaten. „Wie überraschend immer dieses Weihnachten kommt!“, murmelte June, als sie sich durch die Massen schlängelten. Wenigstens war das Wetter dankbar und es war nicht zu kalt. Delihla wäre sicherlich auch ohne ihren dicken Mantel ausgekommen, aber er stand ihr nun mal so gut und das bisschen Eitelkeit konnte sie leider nicht ablegen. Dennoch war June sich sicher, dass ihr dünner Flickenmantel praktischer war, als dieser modische Fetzen. Als es Richtung Docks ging, wurde der Wind etwas biestiger und zerrte an June's Mütze. Feuchte Luft schlug ihnen entgegen, mit einer Mischung aus Algen und Kohle. Die Themse war kein schöner Fluss zu dieser Zeit und die Docks keine Vorzeigegegend. Der Gestank nach totem Fisch war allgegenwärtig und die Mädchen mussten schon bald durch den Mund atmen. Der Fluss war nicht sauber und klar, sondern unappetitlich braun-grau.
„Ich hab mir das ja immer romantischer vorgestellt...so ein Spaziergang bei den Docks.“, Lihla verzog das Gesicht. „So mit klarem Wasser und Meeresbrise.“
June schnaubte. „Du kannst froh sein, wenn du hier keine Wasserleiche findest. Die hat zwar auch einen Hauch von Meeresbrise, allerdings sieht die nicht mehr so frisch aus. Glaub mir...an der Küste mag das ja romantisch sein...aber hier in London gibt's nichts Romantisches.“

Calais, März 1893
Atemlos stolperte eine junge Frau den Pier entlang. Ihre roten Haare, die wohl einst zu einem schönen Dutt zusammengesteckt waren, standen ihr wild vom Kopf ab. Ein schwarzes langes Cape wehte hinter ihr her. Bei jedem zweiten Schritt blickte sie sich hektisch um. Sie war offenbar in großer Eile und wirkte gehetzt und verängstigt. Immer wieder sah sie auf ein Stück Papier und keuchte plötzlich vor Erleichterung, als sich vor ihr der gesuchte Schriftzug auf einem Holzbrett auftat. Abrupt blieb sie stehen und strich sich das wirre Haar hinter die Ohren. Sie schloss die Augen und atmete ein paar mal tief durch. Dabei ließ sie ihren Zettel fallen, der schwungvoll zu Boden segelte.
Gerade, als sie sich bücken wollte, kam ihr ein Mann zuvor und schnappte ihn ihr weg. Verwundert wandte sie sich ihm zu, doch er hatte bereits einen Blick auf die Notiz darauf geworfen. Sein Bart war ein kleines bisschen zu lang und ungepflegt, sonst wäre er sicher ein attraktiver Mann mittleren Alters gewesen. Er war gut gekleidet und in einer Hand hielt er eine Pfeife, die allerdings erloschen war.
„C'est ici.“, sagte er und wandte die Hand Richtung eines Segelschiffs, das direkt am Steg vertäut war und die besten Jahre lange hinter sich hatte.
„Was?“, fragte die junge Frau reflexartig auf deutsch und schüttelte kurz den Kopf.
„Das ist hier.“, antwortete der Mann auch auf deutsch und musterte sie von oben bis unten. Überrascht, auf einmal ihre Muttersprache zu hören, sah sie ihn einfach nur einen Moment an und versuchte ihn einzuordnen. Ihre grünen Augen leuchteten klug und scharfsinnig. Sie konnte den Unbekannten nicht genau einschätzen und seit ihrer Flucht aus Deutschland traute sie niemandem mehr.
„Danke. Äh, Merci.“, sagte sie und ging schnellen Schrittes auf das Schiff zu, ohne den Mann dabei aus den Augen zu lassen. Seltsamer Typ. Dennoch war sie für jede Information und Hilfe dankbar.
„Hallo?“, rief sie, als sie auf Anhieb niemanden entdecken konnte und sofort tauchten zwei Männer auf dem Schiff auf. „Jenkins?“, fragte sie.
„Yes Ma'am!“, antworteten die beiden Männer mit Londoner Akzent im Chor und krempelten ihre nassen Ärmel hoch.
„I...I need your help.“, schwenkte sie nun ins Englische. „Ich muss weg und zwar am besten schnell.“ Die beiden Männer sahen sich an und nickten dann einem Mann zu, der hinter der Frau das Schiff betreten hatte. Es war der nette Gentleman vom Steg und er trat hinzu und seufzte.
„James, William... Darf ich vorstellen, das ist Frau Frederike Lang.“, sagte er und die rothaarige Frau griff sich fassungslos an den Hals. „Woher wissen Sie das?“, brachte sie heraus.


London 1903
James Jenkins war nicht schwer ausfindig zu machen. Am Hafen stand ein Segelschiff, das den Namen „Jones“ trug und schon sehr in die Jahre gekommen war. Der Name des Schiffes war mit hoher Wahrscheinlichkeit schon ziemlich oft übermalt worden. Es hatte also ungewöhnlich oft den Besitzer gewechselt. June wusste, dass Jenkins manchmal in der Stadt war, denn ab und an sah er bei Sherlock Holmes vorbei. Wahrscheinlich um sich der alten Zeiten zu erinnern. Der Mann war ein paar Jahre älter als sie, sah aber deutlich verbrauchter aus, von der harten Arbeit an Bord gezeichnet. Sein Gesicht war wettergegerbt und er war mittlerweile nicht mehr hager, sondern von stämmiger Statur. Falten zogen sich über Stirn und Wangen, ein bereits ergrauter Bart rahmte das freundliche Gesicht ein. Schon früh waren ihm die Haare ausgegangen und inzwischen hatte er sie fast gänzlich kahl geschoren. Man konnte aber im Großen und Ganzen sagen, die Jahre auf See hatten ihm gut getan. Als er June auf sich zukommen sah, ließ er sofort das Tau fallen, das er in Händen hielt und lief den Mädchen mit ausgebreiteten Armen entgegen. „Juune! Du kleine Landratte, was machst du denn hier?“ Lächelnd fiel June in seine Arme und Lihla wurde klar, dass die zwei eine tiefe Freundschaft verbinden musste. Sie wandte den Blick ab und musste kurz daran denken, dass sie noch nie eine Umarmung bekommen hatte, außer natürlich von ihrem Dad. Aber der zählte nicht.
Nachdem die beiden sich umarmt und kurz miteinander gescherzt hatten, räusperte sich Lihla geschäftsmäßig und zückte ihr Notizbuch.
„Wir sind hier um ein...einen Fall...also eher ein.“, stammelte sie. Ja, warum waren sie denn eigentlich hier? Ein Fall war es ja wohl nicht. Sie zog das Foto aus ihrem Buch und hielt es dem Seemann hin, der sie locker um zwei Köpfe überragte. „Ähm, wir haben hier ein Foto.“ begann sie und June nickte und führte den Satz weiter „Und das kommt uns böhmisch vor.“
„Spanisch.“, verbesserte Lihla sie mit einem leisen Husten. James griff nach dem Foto und nach einem Stirnrunzeln drehte er es um und überflog die Namen – bevor er in Gelächter ausbrach.
„Wo habt ihr das denn her??“, fragte er und gab Lihla das Bild zurück. Irritiert sahen sich die Mädchen an. „Es war in meinem Briefkasten. Sicher ist es von Holmes und ich soll herausfinden, was es damit auf sich hat.“, June zuckte die Schultern. „Ich hab dich natürlich sofort erkannt. Du bist der Mann ganz rechts. Und so dachten wir, kommen wir mal zu dir.“

James kratzte sich am Kinn. „Ich bin nich' sicher, ob ich dir das alles erzählen darf.“, meinte er und schaute sie ernst an. „Das ist ne ziemlich witzige Geschichte. Eigentlich wollten wir nur aus dieser verdammten Stadt raus.“, sagte er und deutete Richtung London.
„Na, das hat ja super funktioniert.“, lachte Delihla und verstummte sofort nachdem June sie hart mit dem Ellbogen in die Rippen stieß.
„Wir haben dieses Schiff hier von Jones beim Zocken gewonnen.“, Jenkins grinste und entblößte die in oder andere Zahnlücke. „Wir fuhren mit Jones nach Calais. Und arbeiteten dort am Hafen. Geplant war eine Fahrt nach Übersee und wir alle taten alles um schnell viel Geld zu verdienen. Es war nicht immer alles legal“, er sah sie eindringlich an und zwinkerte. „Um ehrlich zu sein, wollten wir ein paar Leute in Sicherheit bringen die...sagen wir, auf die die Polizei und so nicht gut zu sprechen war. Einer davon war ein Belgier namens Kloth Derriere, den wir hilfsweise in „Joseph Hall“ umgetauft hatten. Er hatte es sich in Belgien mit den falschen Leuten verscherzt und war nur knapp mit dem Leben davon gekommen. Die Polizei suchte ihn wegen mehrfachen Mordes, obwohl er die Dinge die ihm vorgeworfen wurden nie getan hatte. Der Plan war also, ihn in ein anderes Land zu schaffen. Aber wir brauchten erst noch Proviant. Und bevor wir genug zusammen hatten, bekamen wir mehr Passagiere als uns lieb waren. Dazu einen ganz berühmten.“
„Wen denn?“, fragte Lihla und schrieb fleißig alles mit. James Jenkins schlug mit der Hand klatschend auf seinen Oberschenkel: „Haha! Keinen geringeren als Mister Sherlock Holmes!“
Delihla stoppte und June öffnete den Mund um etwas zu sagen.

Calais, März 1893
Nachdem die junge Frau, Frederike Lang, allen Anwesenden vorgestellt worden war, einschließlich dem Koch Cooper und dem Flüchtigen Derriere, saßen Sie nun um den Captain's Table und leerten ein Glas Schnaps nach dem anderen. Sie erwies sich als außerordentlich trinkfest und erzählte den neugierigen Männern ihre Geschichte. Ihr Name war Frederike Lang und sie war Historikerin und Naturforscherin aus Deutschland. Durch Recherche und Fleiß, aber nicht zuletzt durch eine gehörige Portion Glück war es ihr gelungen, einen verschollen geglaubten Wikingerschatz an der Ostsee zu heben. Ihr größter Triumph und zugleich ihr schlimmster Alptraum.
„Ich war allein und der Schatz war nicht üppig und bestand hauptsächlich aus Armreifen und Münzen. Ich konnte alles mit einem Mal in meinem Mantel nach Hause tragen. Aber irgendwer hat Wind davon bekommen, oder mich beobachtet und seitdem ist mein Leben kein Leben mehr.“, schluchzend vergrub sie das Gesicht in den Händen, aber es dauerte nicht lange, bis sie sich wieder im Griff hatte.
„Man lauerte mir Zuhause auf, schickte mir Morddrohungen und tote Tiere, sogar Blut. Wohin ich auch ging, sie waren mir immer auf den Versen. Und es wurde unerträglich. Sie folgten mir durch Deutschland, durch Belgien nach Frankreich. Es schien, als würden sie immer genau wissen, wo ich als nächstes hinwollte.“
„Wer denn?“, fragte Cooper und rückte seine Brille zurecht, die mehr zerbrochen als ganz war.
Sie flüsterte. „Die Wikinger.“, und die Herren zogen ehrfürchtig die Augenbrauen hoch. Frederike lachte. Und schenkte sich noch etwas Alkohol nach.
„Nein im Ernst, ich weiß es nicht. Vielleicht hat mich jemand gesehen, der den Schatz einfach für sich haben will. Aber ich bin der Meinung, er ist so bedeutend, dass man ihn erst richtig untersuchen und an ein Museum geben sollte.“
Kurze Stille machte sich breit und anerkennend betrachteten die Männer die Frau. Es war klar, dass sie andere Ideale vertraten und den Schatz wahrscheinlich sofort verkauft hätten.
Holmes, der sich der jungen Frau und allen anderen als George Finnemore vorgestellt hatte, schaltete sich ein. „Ich habe davon gehört Miss Lang, wenn auch nur zufällig. Ihr Verschwinden ging bereits durch die Presse und ihre Erscheinung ist zugegebenermaßen durchaus einprägsam.“
Inzwischen hatte Holmes die Pfeife angezündet und nahm immer mal wieder einen tiefen Zug.
„Ich denke, es handelt sich tatsächlich um sogenannte Raubgräber, gepackt von Raffgier und der Aussicht auf Geld. Männer ohne Skrupel und Sie können froh sein, dass Sie es überhaupt bis nach Frankreich geschafft haben.“
„Ich bin seit Monaten unterwegs, Mr. Finnemore. Mein Weg führte über Belgien und sagen wir, ohne Freunde hätte ich es nicht geschafft.“, sagte Frederike und hob ihr Glas an die Lippen.
„Nur scheinbar sind diese Freunde nicht mutig genug, um Sie bei sich aufzunehmen.“, nachdenklich fuhr Holmes sich durch den Bart. „Aber deswegen sind Sie ja hier. Darf ich fragen, wann genau Sie den Schatz gehoben haben?“
Frederike überlegte kurz. „Im Winter, am 23ten November.“
„Warum sind Sie nicht zur Polizei gegangen?“, fragte Bill das Naheliegende. Darauf wusste die junge Frau natürlich prompt eine Antwort. „Weil ich dann weder in Sicherheit wäre, noch den Schatz hätte. Ich bin sicher, sie hätten ihn mir abgenommen. Schließlich gehört er mir nicht. Ich habe ihn nur gefunden und möchte ihn untersuchen.“
„Was noch viel interessanter ist...“, warf James Jenkins ein, und sprach damit wohl aus, woran alle sofort gedacht hatten. „Wo ist denn der Schatz jetzt?“
Die Männer sahen sie an und sie grinste. Dann griff sie unter ihren langen Umhang und warf etwas auf den Holztisch. Es war ein silberner, reich verzierter Armreif.

London, Dezember 1903
„Ein toller Freund.“, meinte Delihla als sie missmutig den Rückweg antraten. Erfahren hatten sie schmerzlich wenig. Jenkins wollte nichts verraten. Was Lihla in ihr Notizbuch geschrieben hatte war, dass die Tote auf dem Bild am Baum „Frederike Lang“ hieß, dass James kleiner Bruder William vor Jahren Skorbut zum Opfer gefallen war und dass der Mann, der auf dem Foto mit „George Finnemore“ beschrieben wird, kein anderer war, als Sherlock Holmes selbst.
Als die Mädchen ein paar Schritte gegangen waren, hielten sie kurz inne und gingen ihre Notizen noch einmal durch. Die Puzzleteile waren da. „Schau mal, findest du nicht, dass „Frederike Lang“ und „Freddy Langmore“ ziemlich ähnlich klingt?“, meinte Lihla und besah sich das Foto noch einmal. Es war perfekt aufgenommen, um nichts genaues darauf zu erkennen.
„Zufall?“, meinte June und kickte nach einem Stein. „Wir wissen, dass das Schiff vorher Jones gehört hat und Jenkins es beim Kartenspielen gewann. Jones war laut James ein mürrischer Zeitgenosse, der jedoch stets zu seinem Wort stand und James und Bill brauchten ihn, wegen seinem know-how. Der Koch hieß Ernest Cooper. Und wenn der eine Mann, George Finnemore, da Holmes ist“, sie deutete auf den Mann mit Pfeife „wer ist denn der andere da?“ „Joseph Hall.“, las Lihla. „Das ist der flüchte Belgier gewesen, der eigentlich Koth oder so hieß.“ Inzwischen hatte sie ihre Notizen weiter vervollständigt, doch die Teile wollten sich in ihrem Kopf nicht zusammenfügen.
„Ob Watson von dem Foto überhaupt weiß?“, fragte June auf einmal und nahm ihre Mütze ab um sich durch die strubbeligen Haare zu fahren.
Lihla legte das Foto zurück in ihr Notizbuch und machte Anstalten zu gehen. „Heute morgen war er auf jeden Fall bei Mr. Holmes zum Tee. Vielleicht haben wir Glück und er ist noch da.“
„Dann auf auf in die Baker Streeeeet!“, rief June und sprintete los. Delihla eilte ihr keuchend und augenrollend hinterher.

Calais, März 1893
Nachdem die Geschichte erzählt und Frederike zu Bett (oder besser gesagt zu Koje) gegangen war, lag Sherlock Holmes alias George Finnemore noch lange wach. Er grübelte und war völlig in sich gekehrt. Während das Schiff sanft auf den Wellen schaukelte, saß er auf einer hölzernen Bank und zog an seiner Pfeife, die längst erloschen war. Doch er war so in Gedanken, dass es ihn nicht kümmerte. Es schien wie immer so, als hätte er sämtliche Vitalfunktionen eingestellt, so tief war er in seinen Überlegungen versunken. Gegen 4 Uhr morgens, die Sonne ging gerade auf, fuhr er plötzlich hoch, klatschte laut in die Hände und weckte damit den an Deck schlafenden Schiffskoch Cooper auf, der vor Schreck beinah über Bord gegangen wäre.

Ein paar Stunden später schlug Holmes dem ungleichen Trüppchen seinen Plan vor und erntete zuerst nur Gelächter. Als die Männer doch verstanden, dass er es ernst meinte, nickten sie nur und Frederike schlug erleichtert und glücklich ein. Zum ersten Mal gab es Hoffnung ihren Peinigern zu entgehen. Sie scheuchte die Männer für ein paar Stunden vom Schiff und als diese abends zurück kamen, war der Innenraum des kleinen Seglers nicht wieder zu erkennen.
Sherlock Holmes lachte schallend, als ein junger Mann ihn an Deck empfing, und Cooper und Jones zückten die Messer, beim Anblick des Fremden, der sie so schamlos angrinste.
„Beruhigen Sie sich, Herrschaften. Sie wollten doch nicht unsere Hauptakteurin abstechen!“
„Frederike?“, japste Archie Jones.
Der grinsende junge Mann hatte kurze rote Haare, trug eine Stoffhose und ein Männerhemd und hatte etwas Schuhcreme im Gesicht. Aus der Ferne hätte man sie vielleicht für einen schmächtigen jungen Mann halten können, doch bei genauerem Hinsehen war ziemlich klar, dass es sich um die junge Historikerin handelte.
„Ab heute Freddy!“, sagte sie entschlossen und zwinkerte ihnen zu. „Sind sie bereit, meine Herren?“

London, Dezember 1903
Natürlich hatte June das Wettlaufen gewonnen und sie war kaum außer Puste, als sie in die Baker Street einbog. Meckernd und hechelnd kam Lihla hinterher, die Wangen rot vor Anstrengung. Sie spürte das Blut in ihrem Zahnfleisch pulsieren und hasste dieses Gefühl. „MEIN GOTT, du machst mich wahnsinnig!“, schimpfte sie und griff sich in die Seiten, die schmerzhaft brannten. „Wenn du unbedingt so was machen willst, dann renn' doch alleine den Regents Park auf und ab. Nicht mal der Hund ist so-“
„PSCHT!“, machte June und hielt den Finger vor dem Mund. Sie zog Lihla schnell in eine Seitengasse und sah vorsichtig um die Ecke. Lihla keuchte immer noch und ließ ihr Genick knacken. „Und das am Weihnachtstag, Herr Gott.“
„Wenn deine Oma hört, wie sehr du fluchst, näht sie dir den Mund zu.“, flüsterte June und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Eine schwarze Silhouette war in ihr Blickfeld gehuscht.
„Was denkst du denn, von wem ich das Fluchen hab?“, gluckste Lihla und verschluckte sich an ihrer eigenen Spucke.
June zog sie wieder auf die Straße und ging einige Schritte. Ein paar Meter vor Ihnen lief eine Gestalt, komplett in einen langen schwarzen Umhang gehüllt, das Gesicht unter einer Kapuze verborgen. June war sich sicher, dies war ein typischer Klient für Sherlock Holmes. „Wir müssen ihr nach.“, flüsterte June und bewegte sich nun so unauffällig wie möglich. „Woher weißt du denn, dass es eine Frau ist.“, fragte Lihla und kam allmählich wieder zu Atem. Ihre Freundin bedachte sie mit einem „Ist das nicht so offensichtlich“-Blick und räusperte sich. „Schau dir die geschnürten Schuhe an. Und die fliesenden Bewegungen, eindeutig eine Frau.“
„Und wenn nicht?“, fragte Lihla.
Inzwischen waren sie fast an der Baker Street 221 B angelangt und die Gestalt lief direkt auf die Eingangstüre zu. Diese letzte Chance musste June nutzen. Sie machte einen Satz und zog die Frau kräftig am Umhang. Erschrocken fuhr diese herum und die Kapuze rutschte von ihren roten Haaren.
„HUH Sie...Sie sind die Tote am Christbaum!“, entfuhr es June laut.

Calais, März 1893
Das Innere des Schiffes war wie verwandelt. Unmengen von Papiergirlanden hingen von der Decke. Alles, was auf ein Schiff hindeutete, war mit einem weißen Laken verhängt. Auf dem großen runden Captain's Table thronte nun, über und über mit Girlanden bedeckt, ein falscher Weihnachtsbaum, gebastelt aus Draht und Tannenzweigen. Er war mit unzähligen Kerzen geschmückt und wirkte auf den ersten Blick sogar echt, Frederike hatte ein Bild von sich daran aufgehängt, wie Sherlock sie geheißen hatte. „D-das ist ja unglaublich.“, bracht der jüngere Jenkins hervor und kurz leuchteten seine Augen wie die eines kleinen Jungen. Gläser, Kerzen, kleine Geschenke standen auf dem Tisch und die Stühle waren arrangiert. Frederike, oder Freddy, musste sogar sauber gemacht haben. Es roch angenehm nach Tanne und Kartoffeln.
„Wie haben Sie das gemacht?“, fragte Cooper und schnüffelte interessiert an den Papiergirlanden. „Kartoffeln enthalten viel Stärke. Damit kann man Dinge zusammen kleben.“, lachte Freddy. „Und nun zieht euch alle um, damit wir an diesem Fest der Liebe alle hübsch aussehen!“

Mit gewachsten Bärten und Haaren nahmen die Herren wenig später um den Tisch herum Platz. Ein bestellter Fotograf betrat wenig später das Schiff und Sherlock begrüßte ihn. Es sollte ein ganz besonderes Bild werden. Aber eigentlich war es dem Fotografen ziemlich egal, was er da wie fotografierte, wichtiger war ihm, dass er dafür eine horrende Summe bekam. Mit bestem Schulfranzösisch gab Holmes ihm exakte Anweisungen. Das Bild sollte überbelichtet sein und sofort an die Deutsche Presse geschickt werden und zwar mit folgender Botschaft: „Der Jagd- und Naturfreunde Verein von Stuckenborstel trauert um seine langjährige Kollegin und Investorin Frederike Lang. Möge Sie in Frieden ruhen. Weihnachten, 1892. Deine Kameraden William Jenkins, Ernest Cooper, Joseph Hall, Freddy Langmore, George Finnemore, Archie Jones und James Jenkins. “
Freddy positionierte sich etwas hinter dem Baum und alle andere Herren versuchten so andächtig wie möglich zu wirken, starrten traurig auf den Tisch oder ernst in die Kamera. Sie mussten einige Sekunden verharren, bis es einen Knall gab und der Fotoapparat auslöste. Insgesamt wurden zwei Fotos geschossen und bald war der Fotograf wieder zurück an Land. Er hatte versprochen, die Platten zu entwickeln und ein Foto an die deutsche Presse, sowie eines an die Baker Street 221 B zu schicken. Jetzt galt es für die Mannschaft des Segelschiffs schnell zu handeln, bevor jemand Verdacht schöpfen konnte.
Kaum war der Künstler außer Sichtweite, schlugen die Männer das Holzschild vom Pier, übermalten den Namen „Jenkins“ sicherheitshalber mit „Jones“ und stachen in See.

Saint Helen's Island sollte die neue Heimat von Miss Lang und Joseph Hall werden, und auch ein paar Besatzungsmitglieder wollten sich dahin absetzen. „George Finnemore“ würde nicht bleiben, sondern alsbald als möglich nach London zurückkehren.

London, Dezember 1903
„Das klingt alles unfassbar.“, sagte June und nippte an ihrem Kakao.
Sherlock Holmes, Dr. Watson, die zwei Mädchen und „die Tote vom Christbaum“ saßen nun in den behaglichen Räumlichkeiten in der Baker Street 221 B und lachten über den vor Jahren gelungenen Streich. Auch wenn June und Delihla es diesmal nicht geschafft hatten, diese kuriose Geschichte aufzuklären, waren sie doch sehr erstaunt und erfreut darüber zu erfahren, was es wirklich damit auf sich hatte. Ein falsches Weihnachtsfest und die erfolgreiche Flucht einer Wissenschaftlerin nach St. Helen's Island.
Frederike Lang, die mittlerweile den Spitznamen Freddy angenommen und weitergeführt hatte, hatte sich ein Zuhause auf St. Helen's Island aufgebaut. Sie wollte es sich jedoch nicht nehmen lassen, sich bei ihrem Retter zu bedanken. Nach zehn Jahren nun, hatte sie sich endlich auf den Weg nach London gemacht.
Nachdem die Anzeige in der Presse veröffentlicht wurde, hatten die Drohungen gegen sie aufgehört und die Verfolger aufgegeben. Was den Wikingerschatz anging, den hatte sie nach langer Studie einem Museum an der Ostsee überlassen, an dass sie die Fundstücke anonym gesendet hatte. Alles, was von dieser Aktion geblieben war, waren dieses Foto und die Erinnerung an ein Weihnachtsfest, das nie stattgefunden hatte.
„Vielen Dank, Mr. Finnemore. Ich verdanke Ihnen mein Leben.“, sagte Freddy Lang und reichte Holmes lachend die Hand.

„Es war mir eine Ehre, Mister Langmoore, es war mir wirklich eine Ehre.“