Eine kurze Erklärung:
Auch dieses Jahr wurde im Baker Street Chronicle wieder zu einem Schreibwettbewerb aufgerufen. Zugrunde lag dieses Foto und ein kurzes Intro. Dr. Watson hätte dieses Foto in alten Unterlagen von Holmes gefunden und auf der Rückseite war die Jahreszahl 1982 zu lesen sowie die Namen der Herrschaften, die auf dem Bild zu sehen waren: "William Jenkins, Ernest Cooper, Joseph Hall, Freddy Langmore, "George Finnemore", Archie Jones und James Jenkins".
Für den Wettbewerb sollte man sich nun eine Geschichte dazu ausdenken und das habe ich natürlich getan.
Ich wünsch euch viel Spaß mit June und Delihla!
London, Dezember
1903
Nachdenklich drehte
June das Foto in ihren Fingern. „Also ich weiß nicht,
Delihla...irgendwie sieht das komisch aus.“, mit
zusammengekniffenen Augen versuchte sie, auf dem Bild weitere Details
zu erkennen.
Das Mädchen mit den
langen dunklen Locken riss ihrer Freundin das Foto aus der Hand und
hielt es dicht vor die Augen.
„Das weiß ich
auch... Es ist schon ein sehr seltsames Bild.“, sie drehe es um und
las laut „Weihnachten 1892... obwohl es noch nicht so alt ist,
sieht es ziemlich dilettantisch aufgenommen aus.“
Auf dem Foto von
1892 war ein Weihnachtsbaum auf einem Tisch zu sehen, um den sieben
Männer herumsaßen. Ihre Namen waren auf die Rückseite geschrieben,
mit ordentlicher Schrift. Doch das Bild war überbelichtet und
Details waren kaum zu erkennen.
Delihla öffnete ihr
Notizbuch und zückte den Bleistift. „Wir schreiben erst einmal
auf, was wir sehen. Der Weihnachtsbaum sieht seltsam aus... und der
Hintergrund auch.“ June pflichtete ihr bei: „Und schau dir den
Kerl hinter dem Baum an. Überhaupt sehen alle ziemlich – halt!!
Ist das … ist das James??“, rief June und griff wieder nach dem
Bild, doch Lihla hielt es entschlossen fest und sah ihre impulsive
Freundin ratlos an.
„Wer bitte ist
James?“
„James Jenkins!
Der und sein kleiner Bruder waren mal welche von uns, bei der Baker
Street Bande. Aber dann begann James sich am Hafen rumzutreiben.“
June nickte. „Ja, das muss James sein. Auch wenn er irgendwie
seltsam verkleidet aussieht.“
„Kennst du noch
jemanden auf dem Bild?“ Lihla schrieb schnell einige Notizen in ihr
Buch und kringelte den Namen „James Jenkins“ ein, während June
das Foto weiter studierte. „Hm...ganz links ist sein Bruder Bill.
Und der eine Mann da mit der Pfeife erinnert mich auch an
jemanden...aber ich weiß nicht an wen. Der kommt mir bekannt vor.
Irgendwo habe ich den schon mal gesehen.“
Lihla sah ihr über
die Schulter und zog eine Augenbraue hoch. „Also ich finde der
sieht aus wie einer dieser gelackten Schmieraffen, auf dem Poloplatz.
Die haben mehr Fett in den Haaren als Haushalte das ganze Jahr zum
Kochen brauchen.“ June lachte und schüttelte den Kopf. Sie wusste
genau, wie froh ihre Freundin Delihla war, den gehobenen Kreisen zu
entfliehen.
Am Weihnachtsmorgen
war das Bild in June's Briefkasten gewesen und eigentlich konnte es
nur von einem kommen – Sherlock Holmes. Er hatte ihr wohl mal
wieder ein Rätsel aufgegeben und keine Information mehr verraten,
als nötig waren. Nun war June's Kampfgeist geweckt und sie traute
sich nicht eher zu dem Meisterdetektiv, bis sie das Rätsel mit Lihla
zusammen gelöst hatte. Jetzt saßen sie schon seit einiger Zeit in
Wiggins' Wohnung und brüteten darüber. Die Hinweise waren wirklich
sehr dürftig und die zwei Mädchen waren sich nicht sicher, wo sie
überhaupt ansetzen sollten. Dennoch ging eine Faszination von diesem
Foto aus, es sah eben nicht so aus wie das durchschnittliche
Weihnachtsfoto.
„Ich bleibe dabei:
Der Mann hinter dem Baum sieht echt seltsam aus. Und dieser Baum...
wer hängt denn da so ein Bild an den Baum?“
„Du Doofi...das
ist wahrscheinlich ein Toter, dem zum Weihnachtsfest gedacht wurde.
Es sieht aus wie eine Frau.“, flüsterte Lihla und schrieb den
Gedanken sofort auf. Sie besah sich ihre Notizen:
James Jenkins
ganz rechts, Bill Jenkins ganz links – Ex Baker Street
Kriminalpolizei
Weihnachtsbaum
und Hintergrund komisch
Bild
überbelichtet – Amateurfotograf?
Tote am Baum
Den letzten Punkt
besserte sie in „Foto einer Toten am Baum“ aus.
„Ich finde, wir
sollten zu James Jenkins gehen und ihn fragen.“, sagte Lihla und
erhob sich, um ihren Mantel anzuziehen.
„So mag ich das!
Direkt mal in die Zeugenbefragung gehen!“, June zupfte ihre Mütze
zurecht und die beiden brachen auf.
Der Weihnachtsmorgen
war geschäftig. Menschen versuchten verzweifelt noch ein paar
Geschenke aufzutreiben und kauften Kochzutaten. „Wie überraschend
immer dieses Weihnachten kommt!“, murmelte June, als sie sich durch
die Massen schlängelten. Wenigstens war das Wetter dankbar und es
war nicht zu kalt. Delihla wäre sicherlich auch ohne ihren dicken
Mantel ausgekommen, aber er stand ihr nun mal so gut und das bisschen
Eitelkeit konnte sie leider nicht ablegen. Dennoch war June sich
sicher, dass ihr dünner Flickenmantel praktischer war, als dieser
modische Fetzen. Als es Richtung Docks ging, wurde der Wind etwas
biestiger und zerrte an June's Mütze. Feuchte Luft schlug ihnen
entgegen, mit einer Mischung aus Algen und Kohle. Die Themse war kein
schöner Fluss zu dieser Zeit und die Docks keine Vorzeigegegend. Der
Gestank nach totem Fisch war allgegenwärtig und die Mädchen mussten
schon bald durch den Mund atmen. Der Fluss war nicht sauber und klar,
sondern unappetitlich braun-grau.
„Ich hab mir das
ja immer romantischer vorgestellt...so ein Spaziergang bei den
Docks.“, Lihla verzog das Gesicht. „So mit klarem Wasser und
Meeresbrise.“
June schnaubte. „Du
kannst froh sein, wenn du hier keine Wasserleiche findest. Die hat
zwar auch einen Hauch von Meeresbrise, allerdings sieht die nicht
mehr so frisch aus. Glaub mir...an der Küste mag das ja romantisch
sein...aber hier in London gibt's nichts Romantisches.“
Calais, März
1893
Atemlos stolperte
eine junge Frau den Pier entlang. Ihre roten Haare, die wohl einst zu
einem schönen Dutt zusammengesteckt waren, standen ihr wild vom Kopf
ab. Ein schwarzes langes Cape wehte hinter ihr her. Bei jedem zweiten
Schritt blickte sie sich hektisch um. Sie war offenbar in großer
Eile und wirkte gehetzt und verängstigt. Immer wieder sah sie auf
ein Stück Papier und keuchte plötzlich vor Erleichterung, als sich
vor ihr der gesuchte Schriftzug auf einem Holzbrett auftat. Abrupt
blieb sie stehen und strich sich das wirre Haar hinter die Ohren. Sie
schloss die Augen und atmete ein paar mal tief durch. Dabei ließ sie
ihren Zettel fallen, der schwungvoll zu Boden segelte.
Gerade, als sie sich
bücken wollte, kam ihr ein Mann zuvor und schnappte ihn ihr weg.
Verwundert wandte sie sich ihm zu, doch er hatte bereits einen Blick
auf die Notiz darauf geworfen. Sein Bart war ein kleines bisschen zu
lang und ungepflegt, sonst wäre er sicher ein attraktiver Mann
mittleren Alters gewesen. Er war gut gekleidet und in einer Hand
hielt er eine Pfeife, die allerdings erloschen war.
„C'est ici.“,
sagte er und wandte die Hand Richtung eines Segelschiffs, das direkt
am Steg vertäut war und die besten Jahre lange hinter sich hatte.
„Was?“, fragte
die junge Frau reflexartig auf deutsch und schüttelte kurz den Kopf.
„Das ist hier.“,
antwortete der Mann auch auf deutsch und musterte sie von oben bis
unten. Überrascht, auf einmal ihre Muttersprache zu hören, sah sie
ihn einfach nur einen Moment an und versuchte ihn einzuordnen. Ihre
grünen Augen leuchteten klug und scharfsinnig. Sie konnte den
Unbekannten nicht genau einschätzen und seit ihrer Flucht aus
Deutschland traute sie niemandem mehr.
„Danke. Äh,
Merci.“, sagte sie und ging schnellen Schrittes auf das Schiff zu,
ohne den Mann dabei aus den Augen zu lassen. Seltsamer Typ. Dennoch
war sie für jede Information und Hilfe dankbar.
„Hallo?“, rief
sie, als sie auf Anhieb niemanden entdecken konnte und sofort
tauchten zwei Männer auf dem Schiff auf. „Jenkins?“, fragte sie.
„Yes Ma'am!“,
antworteten die beiden Männer mit Londoner Akzent im Chor und
krempelten ihre nassen Ärmel hoch.
„I...I need your
help.“, schwenkte sie nun ins Englische. „Ich muss weg und zwar
am besten schnell.“ Die beiden Männer sahen sich an und nickten
dann einem Mann zu, der hinter der Frau das Schiff betreten hatte. Es
war der nette Gentleman vom Steg und er trat hinzu und seufzte.
„James, William...
Darf ich vorstellen, das ist Frau Frederike Lang.“, sagte er und
die rothaarige Frau griff sich fassungslos an den Hals. „Woher
wissen Sie das?“, brachte sie heraus.
London 1903
James Jenkins war
nicht schwer ausfindig zu machen. Am Hafen stand ein Segelschiff, das
den Namen „Jones“ trug und schon sehr in die Jahre gekommen war.
Der Name des Schiffes war mit hoher Wahrscheinlichkeit schon ziemlich
oft übermalt worden. Es hatte also ungewöhnlich oft den Besitzer
gewechselt. June wusste, dass Jenkins manchmal in der Stadt war, denn
ab und an sah er bei Sherlock Holmes vorbei. Wahrscheinlich um sich
der alten Zeiten zu erinnern. Der Mann war ein paar Jahre älter als
sie, sah aber deutlich verbrauchter aus, von der harten Arbeit an
Bord gezeichnet. Sein Gesicht war wettergegerbt und er war
mittlerweile nicht mehr hager, sondern von stämmiger Statur. Falten
zogen sich über Stirn und Wangen, ein bereits ergrauter Bart rahmte
das freundliche Gesicht ein. Schon früh waren ihm die Haare
ausgegangen und inzwischen hatte er sie fast gänzlich kahl
geschoren. Man konnte aber im Großen und Ganzen sagen, die Jahre auf
See hatten ihm gut getan. Als er June auf sich zukommen sah, ließ er
sofort das Tau fallen, das er in Händen hielt und lief den Mädchen
mit ausgebreiteten Armen entgegen. „Juune! Du kleine Landratte, was
machst du denn hier?“ Lächelnd fiel June in seine Arme und Lihla
wurde klar, dass die zwei eine tiefe Freundschaft verbinden musste.
Sie wandte den Blick ab und musste kurz daran denken, dass sie noch
nie eine Umarmung bekommen hatte, außer natürlich von ihrem Dad.
Aber der zählte nicht.
Nachdem die beiden
sich umarmt und kurz miteinander gescherzt hatten, räusperte sich
Lihla geschäftsmäßig und zückte ihr Notizbuch.
„Wir sind hier um
ein...einen Fall...also eher ein.“, stammelte sie. Ja, warum waren
sie denn eigentlich hier? Ein Fall war es ja wohl nicht. Sie zog das
Foto aus ihrem Buch und hielt es dem Seemann hin, der sie locker um
zwei Köpfe überragte. „Ähm, wir haben hier ein Foto.“ begann
sie und June nickte und führte den Satz weiter „Und das kommt uns
böhmisch vor.“
„Spanisch.“,
verbesserte Lihla sie mit einem leisen Husten. James griff nach dem
Foto und nach einem Stirnrunzeln drehte er es um und überflog die
Namen – bevor er in Gelächter ausbrach.
„Wo habt ihr das
denn her??“, fragte er und gab Lihla das Bild zurück. Irritiert
sahen sich die Mädchen an. „Es war in meinem Briefkasten. Sicher
ist es von Holmes und ich soll herausfinden, was es damit auf sich
hat.“, June zuckte die Schultern. „Ich hab dich natürlich sofort
erkannt. Du bist der Mann ganz rechts. Und so dachten wir, kommen wir
mal zu dir.“
James kratzte sich
am Kinn. „Ich bin nich' sicher, ob ich dir das alles erzählen
darf.“, meinte er und schaute sie ernst an. „Das ist ne ziemlich
witzige Geschichte. Eigentlich wollten wir nur aus dieser verdammten
Stadt raus.“, sagte er und deutete Richtung London.
„Na, das hat ja
super funktioniert.“, lachte Delihla und verstummte sofort nachdem
June sie hart mit dem Ellbogen in die Rippen stieß.
„Wir haben dieses
Schiff hier von Jones beim Zocken gewonnen.“, Jenkins grinste und
entblößte die in oder andere Zahnlücke. „Wir fuhren mit Jones
nach Calais. Und arbeiteten dort am Hafen. Geplant war eine Fahrt
nach Übersee und wir alle taten alles um schnell viel Geld zu
verdienen. Es war nicht immer alles legal“, er sah sie eindringlich
an und zwinkerte. „Um ehrlich zu sein, wollten wir ein paar Leute
in Sicherheit bringen die...sagen wir, auf die die Polizei und so
nicht gut zu sprechen war. Einer davon war ein Belgier namens Kloth
Derriere, den wir hilfsweise in „Joseph Hall“ umgetauft hatten.
Er hatte es sich in Belgien mit den falschen Leuten verscherzt und
war nur knapp mit dem Leben davon gekommen. Die Polizei suchte ihn
wegen mehrfachen Mordes, obwohl er die Dinge die ihm vorgeworfen
wurden nie getan hatte. Der Plan war also, ihn in ein anderes Land zu
schaffen. Aber wir brauchten erst noch Proviant. Und bevor wir genug
zusammen hatten, bekamen wir mehr Passagiere als uns lieb waren. Dazu
einen ganz berühmten.“
„Wen denn?“,
fragte Lihla und schrieb fleißig alles mit. James Jenkins schlug mit
der Hand klatschend auf seinen Oberschenkel: „Haha! Keinen
geringeren als Mister Sherlock Holmes!“
Delihla stoppte und
June öffnete den Mund um etwas zu sagen.
Calais, März
1893
Nachdem die junge
Frau, Frederike Lang, allen Anwesenden vorgestellt worden war,
einschließlich dem Koch Cooper und dem Flüchtigen Derriere, saßen
Sie nun um den Captain's Table und leerten ein Glas Schnaps nach dem
anderen. Sie erwies sich als außerordentlich trinkfest und erzählte
den neugierigen Männern ihre Geschichte. Ihr Name war Frederike Lang
und sie war Historikerin und Naturforscherin aus Deutschland. Durch
Recherche und Fleiß, aber nicht zuletzt durch eine gehörige Portion
Glück war es ihr gelungen, einen verschollen geglaubten
Wikingerschatz an der Ostsee zu heben. Ihr größter Triumph und
zugleich ihr schlimmster Alptraum.
„Ich war allein
und der Schatz war nicht üppig und bestand hauptsächlich aus
Armreifen und Münzen. Ich konnte alles mit einem Mal in meinem
Mantel nach Hause tragen. Aber irgendwer hat Wind davon bekommen,
oder mich beobachtet und seitdem ist mein Leben kein Leben mehr.“,
schluchzend vergrub sie das Gesicht in den Händen, aber es dauerte
nicht lange, bis sie sich wieder im Griff hatte.
„Man lauerte mir
Zuhause auf, schickte mir Morddrohungen und tote Tiere, sogar Blut.
Wohin ich auch ging, sie waren mir immer auf den Versen. Und es wurde
unerträglich. Sie folgten mir durch Deutschland, durch Belgien nach
Frankreich. Es schien, als würden sie immer genau wissen, wo ich als
nächstes hinwollte.“
„Wer denn?“,
fragte Cooper und rückte seine Brille zurecht, die mehr zerbrochen
als ganz war.
Sie flüsterte. „Die
Wikinger.“, und die Herren zogen ehrfürchtig die Augenbrauen hoch.
Frederike lachte. Und schenkte sich noch etwas Alkohol nach.
„Nein im Ernst,
ich weiß es nicht. Vielleicht hat mich jemand gesehen, der den
Schatz einfach für sich haben will. Aber ich bin der Meinung, er ist
so bedeutend, dass man ihn erst richtig untersuchen und an ein Museum
geben sollte.“
Kurze Stille machte
sich breit und anerkennend betrachteten die Männer die Frau. Es war
klar, dass sie andere Ideale vertraten und den Schatz wahrscheinlich
sofort verkauft hätten.
Holmes, der sich der
jungen Frau und allen anderen als George Finnemore vorgestellt hatte,
schaltete sich ein. „Ich habe davon gehört Miss Lang, wenn auch
nur zufällig. Ihr Verschwinden ging bereits durch die Presse und
ihre Erscheinung ist zugegebenermaßen durchaus einprägsam.“
Inzwischen hatte
Holmes die Pfeife angezündet und nahm immer mal wieder einen tiefen
Zug.
„Ich denke, es
handelt sich tatsächlich um sogenannte Raubgräber, gepackt von
Raffgier und der Aussicht auf Geld. Männer ohne Skrupel und Sie
können froh sein, dass Sie es überhaupt bis nach Frankreich
geschafft haben.“
„Ich bin seit
Monaten unterwegs, Mr. Finnemore. Mein Weg führte über Belgien und
sagen wir, ohne Freunde hätte ich es nicht geschafft.“, sagte
Frederike und hob ihr Glas an die Lippen.
„Nur scheinbar
sind diese Freunde nicht mutig genug, um Sie bei sich aufzunehmen.“,
nachdenklich fuhr Holmes sich durch den Bart. „Aber deswegen sind
Sie ja hier. Darf ich fragen, wann genau Sie den Schatz gehoben
haben?“
Frederike überlegte
kurz. „Im Winter, am 23ten November.“
„Warum sind Sie
nicht zur Polizei gegangen?“, fragte Bill das Naheliegende. Darauf
wusste die junge Frau natürlich prompt eine Antwort. „Weil ich
dann weder in Sicherheit wäre, noch den Schatz hätte. Ich bin
sicher, sie hätten ihn mir abgenommen. Schließlich gehört er mir
nicht. Ich habe ihn nur gefunden und möchte ihn untersuchen.“
„Was noch viel
interessanter ist...“, warf James Jenkins ein, und sprach damit
wohl aus, woran alle sofort gedacht hatten. „Wo ist denn der Schatz
jetzt?“
Die Männer sahen
sie an und sie grinste. Dann griff sie unter ihren langen Umhang und
warf etwas auf den Holztisch. Es war ein silberner, reich verzierter
Armreif.
London, Dezember
1903
„Ein toller
Freund.“, meinte Delihla als sie missmutig den Rückweg antraten.
Erfahren hatten sie schmerzlich wenig. Jenkins wollte nichts
verraten. Was Lihla in ihr Notizbuch geschrieben hatte war, dass die
Tote auf dem Bild am Baum „Frederike Lang“ hieß, dass James
kleiner Bruder William vor Jahren Skorbut zum Opfer gefallen war und
dass der Mann, der auf dem Foto mit „George Finnemore“
beschrieben wird, kein anderer war, als Sherlock Holmes selbst.
Als die Mädchen ein
paar Schritte gegangen waren, hielten sie kurz inne und gingen ihre
Notizen noch einmal durch. Die Puzzleteile waren da. „Schau mal,
findest du nicht, dass „Frederike Lang“ und „Freddy Langmore“
ziemlich ähnlich klingt?“, meinte Lihla und besah sich das Foto
noch einmal. Es war perfekt aufgenommen, um nichts genaues darauf zu
erkennen.
„Zufall?“,
meinte June und kickte nach einem Stein. „Wir wissen, dass das
Schiff vorher Jones gehört hat und Jenkins es beim Kartenspielen
gewann. Jones war laut James ein mürrischer Zeitgenosse, der jedoch
stets zu seinem Wort stand und James und Bill brauchten ihn, wegen
seinem know-how. Der Koch hieß Ernest Cooper. Und wenn der eine
Mann, George Finnemore, da Holmes ist“, sie deutete auf den Mann
mit Pfeife „wer ist denn der andere da?“ „Joseph Hall.“, las
Lihla. „Das ist der flüchte Belgier gewesen, der eigentlich Koth
oder so hieß.“ Inzwischen hatte sie ihre Notizen weiter
vervollständigt, doch die Teile wollten sich in ihrem Kopf nicht
zusammenfügen.
„Ob Watson von dem
Foto überhaupt weiß?“, fragte June auf einmal und nahm ihre Mütze
ab um sich durch die strubbeligen Haare zu fahren.
Lihla legte das Foto
zurück in ihr Notizbuch und machte Anstalten zu gehen. „Heute
morgen war er auf jeden Fall bei Mr. Holmes zum Tee. Vielleicht haben
wir Glück und er ist noch da.“
„Dann auf auf in
die Baker Streeeeet!“, rief June und sprintete los. Delihla eilte
ihr keuchend und augenrollend hinterher.
Calais, März
1893
Nachdem die
Geschichte erzählt und Frederike zu Bett (oder besser gesagt zu
Koje) gegangen war, lag Sherlock Holmes alias George Finnemore noch
lange wach. Er grübelte und war völlig in sich gekehrt. Während
das Schiff sanft auf den Wellen schaukelte, saß er auf einer
hölzernen Bank und zog an seiner Pfeife, die längst erloschen war.
Doch er war so in Gedanken, dass es ihn nicht kümmerte. Es schien
wie immer so, als hätte er sämtliche Vitalfunktionen eingestellt,
so tief war er in seinen Überlegungen versunken. Gegen 4 Uhr
morgens, die Sonne ging gerade auf, fuhr er plötzlich hoch,
klatschte laut in die Hände und weckte damit den an Deck schlafenden
Schiffskoch Cooper auf, der vor Schreck beinah über Bord gegangen
wäre.
Ein paar Stunden
später schlug Holmes dem ungleichen Trüppchen seinen Plan vor und
erntete zuerst nur Gelächter. Als die Männer doch verstanden, dass
er es ernst meinte, nickten sie nur und Frederike schlug erleichtert
und glücklich ein. Zum ersten Mal gab es Hoffnung ihren Peinigern zu
entgehen. Sie scheuchte die Männer für ein paar Stunden vom Schiff
und als diese abends zurück kamen, war der Innenraum des kleinen
Seglers nicht wieder zu erkennen.
Sherlock Holmes
lachte schallend, als ein junger Mann ihn an Deck empfing, und Cooper
und Jones zückten die Messer, beim Anblick des Fremden, der sie so
schamlos angrinste.
„Beruhigen Sie
sich, Herrschaften. Sie wollten doch nicht unsere Hauptakteurin
abstechen!“
„Frederike?“,
japste Archie Jones.
Der grinsende junge
Mann hatte kurze rote Haare, trug eine Stoffhose und ein Männerhemd
und hatte etwas Schuhcreme im Gesicht. Aus der Ferne hätte man sie
vielleicht für einen schmächtigen jungen Mann halten können, doch
bei genauerem Hinsehen war ziemlich klar, dass es sich um die junge
Historikerin handelte.
„Ab heute
Freddy!“, sagte sie entschlossen und zwinkerte ihnen zu. „Sind
sie bereit, meine Herren?“
London, Dezember
1903
Natürlich hatte
June das Wettlaufen gewonnen und sie war kaum außer Puste, als sie
in die Baker Street einbog. Meckernd und hechelnd kam Lihla
hinterher, die Wangen rot vor Anstrengung. Sie spürte das Blut in
ihrem Zahnfleisch pulsieren und hasste dieses Gefühl. „MEIN GOTT,
du machst mich wahnsinnig!“, schimpfte sie und griff sich in die
Seiten, die schmerzhaft brannten. „Wenn du unbedingt so was machen
willst, dann renn' doch alleine den Regents Park auf und ab. Nicht
mal der Hund ist so-“
„PSCHT!“, machte
June und hielt den Finger vor dem Mund. Sie zog Lihla schnell in eine
Seitengasse und sah vorsichtig um die Ecke. Lihla keuchte immer noch
und ließ ihr Genick knacken. „Und das am Weihnachtstag, Herr
Gott.“
„Wenn deine Oma
hört, wie sehr du fluchst, näht sie dir den Mund zu.“, flüsterte
June und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Eine
schwarze Silhouette war in ihr Blickfeld gehuscht.
„Was denkst du
denn, von wem ich das Fluchen hab?“, gluckste Lihla und
verschluckte sich an ihrer eigenen Spucke.
June zog sie wieder
auf die Straße und ging einige Schritte. Ein paar Meter vor Ihnen
lief eine Gestalt, komplett in einen langen schwarzen Umhang gehüllt,
das Gesicht unter einer Kapuze verborgen. June war sich sicher, dies
war ein typischer Klient für Sherlock Holmes. „Wir müssen ihr
nach.“, flüsterte June und bewegte sich nun so unauffällig wie
möglich. „Woher weißt du denn, dass es eine Frau ist.“, fragte
Lihla und kam allmählich wieder zu Atem. Ihre Freundin bedachte sie
mit einem „Ist das nicht so offensichtlich“-Blick und räusperte
sich. „Schau dir die geschnürten Schuhe an. Und die fliesenden
Bewegungen, eindeutig eine Frau.“
„Und wenn nicht?“,
fragte Lihla.
Inzwischen waren sie
fast an der Baker Street 221 B angelangt und die Gestalt lief direkt
auf die Eingangstüre zu. Diese letzte Chance musste June nutzen. Sie
machte einen Satz und zog die Frau kräftig am Umhang. Erschrocken
fuhr diese herum und die Kapuze rutschte von ihren roten Haaren.
„HUH Sie...Sie
sind die Tote am Christbaum!“, entfuhr es June laut.
Calais, März
1893
Das Innere des
Schiffes war wie verwandelt. Unmengen von Papiergirlanden hingen von
der Decke. Alles, was auf ein Schiff hindeutete, war mit einem weißen
Laken verhängt. Auf dem großen runden Captain's Table thronte nun,
über und über mit Girlanden bedeckt, ein falscher Weihnachtsbaum,
gebastelt aus Draht und Tannenzweigen. Er war mit unzähligen Kerzen
geschmückt und wirkte auf den ersten Blick sogar echt, Frederike
hatte ein Bild von sich daran aufgehängt, wie Sherlock sie geheißen
hatte. „D-das ist ja unglaublich.“, bracht der jüngere Jenkins
hervor und kurz leuchteten seine Augen wie die eines kleinen Jungen.
Gläser, Kerzen, kleine Geschenke standen auf dem Tisch und die
Stühle waren arrangiert. Frederike, oder Freddy, musste sogar sauber
gemacht haben. Es roch angenehm nach Tanne und Kartoffeln.
„Wie haben Sie das
gemacht?“, fragte Cooper und schnüffelte interessiert an den
Papiergirlanden. „Kartoffeln enthalten viel Stärke. Damit kann man
Dinge zusammen kleben.“, lachte Freddy. „Und nun zieht euch alle
um, damit wir an diesem Fest der Liebe alle hübsch aussehen!“
Mit gewachsten
Bärten und Haaren nahmen die Herren wenig später um den Tisch herum
Platz. Ein bestellter Fotograf betrat wenig später das Schiff und
Sherlock begrüßte ihn. Es sollte ein ganz besonderes Bild werden.
Aber eigentlich war es dem Fotografen ziemlich egal, was er da wie
fotografierte, wichtiger war ihm, dass er dafür eine horrende Summe
bekam. Mit bestem Schulfranzösisch gab Holmes ihm exakte
Anweisungen. Das Bild sollte überbelichtet sein und sofort an die
Deutsche Presse geschickt werden und zwar mit folgender Botschaft:
„Der Jagd- und Naturfreunde Verein von Stuckenborstel trauert um
seine langjährige Kollegin und Investorin Frederike Lang. Möge Sie
in Frieden ruhen. Weihnachten, 1892. Deine Kameraden William Jenkins,
Ernest Cooper, Joseph Hall, Freddy Langmore, George Finnemore, Archie
Jones und James Jenkins. “
Freddy positionierte
sich etwas hinter dem Baum und alle andere Herren versuchten so
andächtig wie möglich zu wirken, starrten traurig auf den Tisch
oder ernst in die Kamera. Sie mussten einige Sekunden verharren, bis
es einen Knall gab und der Fotoapparat auslöste. Insgesamt wurden
zwei Fotos geschossen und bald war der Fotograf wieder zurück an
Land. Er hatte versprochen, die Platten zu entwickeln und ein Foto an
die deutsche Presse, sowie eines an die Baker Street 221 B zu
schicken. Jetzt galt es für die Mannschaft des Segelschiffs schnell
zu handeln, bevor jemand Verdacht schöpfen konnte.
Kaum war der
Künstler außer Sichtweite, schlugen die Männer das Holzschild vom
Pier, übermalten den Namen „Jenkins“ sicherheitshalber mit
„Jones“ und stachen in See.
Saint Helen's Island
sollte die neue Heimat von Miss Lang und Joseph Hall werden, und auch
ein paar Besatzungsmitglieder wollten sich dahin absetzen. „George
Finnemore“ würde nicht bleiben, sondern alsbald als möglich nach
London zurückkehren.
London, Dezember
1903
„Das klingt alles
unfassbar.“, sagte June und nippte an ihrem Kakao.
Sherlock Holmes, Dr.
Watson, die zwei Mädchen und „die Tote vom Christbaum“ saßen
nun in den behaglichen Räumlichkeiten in der Baker Street 221 B und
lachten über den vor Jahren gelungenen Streich. Auch wenn June und
Delihla es diesmal nicht geschafft hatten, diese kuriose Geschichte
aufzuklären, waren sie doch sehr erstaunt und erfreut darüber zu
erfahren, was es wirklich damit auf sich hatte. Ein falsches
Weihnachtsfest und die erfolgreiche Flucht einer Wissenschaftlerin
nach St. Helen's Island.
Frederike Lang, die
mittlerweile den Spitznamen Freddy angenommen und weitergeführt
hatte, hatte sich ein Zuhause auf St. Helen's Island aufgebaut. Sie
wollte es sich jedoch nicht nehmen lassen, sich bei ihrem Retter zu
bedanken. Nach zehn Jahren nun, hatte sie sich endlich auf den Weg
nach London gemacht.
Nachdem die Anzeige
in der Presse veröffentlicht wurde, hatten die Drohungen gegen sie
aufgehört und die Verfolger aufgegeben. Was den Wikingerschatz
anging, den hatte sie nach langer Studie einem Museum an der Ostsee
überlassen, an dass sie die Fundstücke anonym gesendet hatte.
Alles, was von dieser Aktion geblieben war, waren dieses Foto und die
Erinnerung an ein Weihnachtsfest, das nie stattgefunden hatte.
„Vielen Dank, Mr.
Finnemore. Ich verdanke Ihnen mein Leben.“, sagte Freddy Lang und
reichte Holmes lachend die Hand.
„Es war mir eine
Ehre, Mister Langmoore, es war mir wirklich eine Ehre.“